Neuroleadership: SCARF-Modell

soziale Alarmbereitschaft

Es ist hinlänglich bekannt, dass bei den meisten Lebewesen eine als Bedrohung empfundene Wahrnehmung dazu führt, dass sowohl die geistigen als auch die physischen Ressourcen auf die Abwehr dieser Bedrohung – Kampf oder Flucht – fokussiert werden. Für andere Aufgaben stehen in der Folge weniger bis keine Kapazitäten mehr zur Verfügung.

Eine wissenschaftliche Untersuchung (Eisenberger, 2003) zeigt, dass soziale Zurückweisung ähnliche Reaktionen im menschlichen Gehirn auslöst wie körperliche Schmerzen. Bereits eine bedrohliche Wahrnehmung löst entsprechend ähnliche neurologische Prozesse aus. Stellen Sie sich die spontane innere Reaktion eines Mitarbeiters vor auf die Frage seines Vorgesetzten: «Darf ich Ihnen ein Feedback geben?»

Viele Mitarbeitende sind auf Grund solcher Umstände neurologisch gar nicht in der Lage, am Arbeitsplatz ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Sie befinden sich ständig in einer sozialen Alarmbereitschaft.

das soziale Gehirn entlasten

Um diese soziale Alarmbereitschaft zu minimieren, schlägt Rock fünf Faktoren vor, auf die Vorgesetzte bei ihren Mitarbeitenden achten sollten: Status, Sicherheit, Autonomie, Verbundenheit, Gerechtigkeit. Aus den englischen Begriffen Status, Certainty, Relatedness, Autonomy, Fairness ergibt sich das Akronym «SCARF», nach dem das Modell benannt wurde.

Führungskräfte mit der Fähigkeit, diese Faktoren aktiv zu beeinflussen, verbessern die Leistung und Effizienz ihrer Teams deutlich. Rock spricht vom sozialen Gehirn, das entlastet wird. Die Schwierigkeit in der Führung ist, dass die fünf Faktoren einander gegenseitig beeinflussen und von jedem Menschen – meist unbewusst – sehr individuell bewertet, erwartet und wahrgenommen werden.

Faktor «Status»

Der Status einer Person ist ihre Position innerhalb einer sozialen Struktur oder die Zuordnung der Position zu einem System sozialer Rangordnung. Status ist also immer vergleichend: wer eine halbe Million verdient wird sich immer minderwertig fühlen gegenüber seinem Kollegen, der das Doppelte verdient.

Neben objektiven, messbaren Grössen beeinflussen aber auch individuelle Einstellungen und Werte einer Person oder Gruppe die subjektive Wahrnehmung des Status. Eine Unternehmenskultur mit gelebten sozialen Werten ist deshalb beispielsweise produktiver als ein starkes internes Wettbewerbs- oder Konkurrenzdenken.

Faktor «Sicherheit»

Viele Mitarbeitende reagieren mit gesteigertem Interesse und Aufmerksamkeit auf eine Aufgabe, die eine bestimmte Ungewissheit beinhaltet. Wird die Herausforderung jedoch zu gross oder der Ausgang einer Situation zu ungewiss, schränkt das wiederum die Handlungsfähigkeit der Mitarbeitenden ein. Dies trifft insbesondere auf Phasen der Veränderung in Unternehmen zu: frühzeitige und transparente Information ist deshalb ebenso wichtig wie berechen- und nachvollziehbare Entscheide des Managements.

Faktor «Autonomie»

Der Grad der Freiheit in der Gestaltung der eigenen Arbeit trägt wesentlich mehr zum Stressempfinden und damit zur Leistungsfähigkeit bei als das eigentliche Arbeitsvolumen. Führungskräfte sollten deshalb ihren Mitarbeitenden angemessene Entscheidungskompetenz gewähren. Während vorgegebene Ziele und klare Organisationsstrukturen den Faktor Sicherheit stärken, belasten zu genaue Arbeitsanweisungen, strenge Reglemente und häufige Kontrollen das soziale Gehirn der Mitarbeitenden übermässig.

Faktor «Verbundenheit»

Bei jeder Begegnung trifft das soziale Gehirn eine Freund-oder-Feind-Entscheidung. Es ist klar, dass die Zusammenarbeit mit einem «Feind» wesentlich weniger effizient sein wird als mit einem Freund. Bereits geringe Verschiedenheiten können jedoch zu einer Stressreaktion bzw. zur sozialen Alarmbereitschaft führen.

Studien haben gezeigt, dass bei der Interaktion zwischen verbundenen Menschen das «Mutterschaftshormon» Oxytocin ausgeschüttet wird. Voraussetzung für die Verbundenheit ist das Kennenlernen, Respekt, Vertrauen und Empathie. Dies braucht Zeit und ist schwieriger bei sehr heterogenen Teams, z.B. im multikulturellen Umfeld oder in Projekten mit Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten.

Faktor «Gerechtigkeit»

Wie eine Studie (Tabibnia/Lieberman, 2007) eindrücklich belegt, ist der Gerechtigkeitssinn mancher Menschen dermassen stark ausgeprägt, dass sie lieber ganz auf einen Vorteil verzichten, als ihn zu ihren Ungunsten zu teilen. Auch Freiwilligenarbeit basiert häufig auf dem Anspruch, Gerechtigkeit für Benachteiligte herzustellen.

Privilegien für andere Mitarbeitende – insbesondere wenn sie nicht nachvollziehbar begründet sind – belasten deshalb das soziale Gehirn enorm. Hingegen führt Fairness selbst in schwierigen Situationen zu einer vergleichsweise hohen Motivation.

Weshalb verdient Ihr Vorgesetzter so viel?

Die Annahme, dass Mitarbeitende nur genügend Anreize brauchen, um ihr Verhalten anzupassen stimmt nicht – insbesondere, wenn es sich ausschliesslich um ökonomische Anreize handelt. Mindestens ebenso wichtig ist es, das soziale Gehirn von seiner Alarmbereitschaft zu befreien.

Selbstverständlich gilt dies nicht nur für Mitarbeitende, sondern ebenso für die Führungskräfte selbst. Denn die Reaktion einer Führungskraft  auf ihre eigene soziale Alarmbereitschaft hat eine grössere Wirkung, weil sie durch ihre Mitarbeitenden verstärkt wird.

Führungskräfte unterschätzen leider oft die Bedeutung der sozialen Faktoren des SCARF-Modells. Stellen Sie sich nur die Wirkung der folgenden Antwort auf die Frage im Titel dieses Absatzes vor: «Weil er einen guten Job macht!»